:: "Das verlorene Gesicht - Hannelore Hornig"

 
Hannelore Hornig

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Regio-TV Schwaben, Anne Jethon (Redakteurin)

Frau Hornig zeigt Gesicht
Stuttgarter Zeitung



Ein Rauhaardackel beißt seiner Besitzerin Mund und Nase ab. Die umarmt lieber die Welt, anstatt sich einzuigeln.
von Kathrin Löffler



In Hannelore Hornigs Wohnzimmer hängt ein Spiegel. Badetuchgroß, oval, mit Goldrand. Hornig schaut gern hinein. Sie ist 75 und eine dieser Frauen, die mit silbernen Haaren ziemlich smart aussehen, sie trägt einen modernen Bob-Schnitt. Ihr Aussehen hat sie seit jeher interessiert. Das änderte sich auch nicht, nachdem der eigene Hund ihr das frühere Antlitz unwiederbringlich genommen hatte. „Ich war immer sehr zuversichtlich. Nach jeder Operation habe ich sofort einen Spiegel verlangt“, sagt sie. 


Hannelore Hornigs Rauhaardackel hat ihr den Mund und die Nasenspitze abgebissen. Passiert ist es 1990. Wie genau, weiß sie nicht mehr. Hund und Besitzerin befanden sich in ihrer Wohnung bei Ulm. Hornig verlor das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich gekommen war, wollte sie etwas trinken. Das klappte nicht. Sie bat die Nachbarin um Hilfe. Der Notarzt kam und brachte sie ins Bundeswehrkrankenhaus. Operation folgte auf Operation auf Operation. Wie viele Eingriffe es waren, kann sie nicht zählen. Hannelore Hornigs Gesicht wurde zum Langzeitprojekt. Drei Jahre dauerte es, bis ihr die Ärzte ein neues gemacht hatten. 


Unter die Stirn pflanzten sie ihr einen sogenannten Expander, eine Art Tüte. Hinein pumpten sie Kochsalzlösung, um die Haut zu dehnen. Eine fürchterlich schmerzhafte Prozedur, eine fürchterlich beklemmende Vorstellung. Ihre Patientengeschichte schildert Hannelore Hornig wie Bastelarbeiten aberwitziger Wissenschaftler: „Ich hatte eine Beule und sah aus wie Frankenstein.“ Die gedehnte Stirnhaut transplantierten die Chirurgen dorthin, wo einmal ihr Mund war. Aus Unterarmgewebe entstand ein neues Kinn. Ein Stück Ohr ersetzte die verlorene Nasenspitze, erzählt Hornig und kichert ein bisschen. Nein, den Humor hat sie nicht verloren.


Ihr neuer Mund war wochenlang zugenäht, ehe Ärzte die transplantierte Haut öffneten. Essen konnte sie nicht während dieser Zeit, Nahrung kam per Magensonde. Getränke schlürfte sie mit Strohhalm. In die Krankenhaus-Cafeteria ging sie trotzdem regelmäßig. Nebenbei kümmerte sie sich um eine andere Patientin, eine demenzkranke ältere Frau. Einmal besuchte sie mitten im Operationsmarathon den Ulmer Schwörmontag – die jährliche Megasause der Stadt mit jeder Menge Remmidemmi und jeder Menge Menschen, die sich durch Gassen quetschen und Blicke werfen könnten. Hornig stürzte sich mit Sonnenhut und Mundschutz in die Meute. Hadern, aufs Zimmer verkriechen, verzagen? Nur das nicht. 



„Ich habe mich von Anfang an nicht versteckt“, sagt sie. Vor dem Unfall arbeitete sie als Sonderschullehrerin. Danach wurde sie vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Sie wollte lieber raus als ruhig sein. Erst spulte sie die Radwege der Umgebung ab: Neckarradweg, Kocher-Jagst-Radweg. Dann kamen die Fernreisen. Sie flog nach Neuseeland und Australien, nach Peru und Japan. Sie durchquerte Kanada im Zug, übernachtete auf US-amerikanischen Hausbooten, sah Costa Rica und Island, tuckerte im Bus durch türkisches Hinterland, setzte sich erneut aufs Rad und fuhr durch Irland. Vermutlich ist sie noch durch 40 weitere Länder getourt, alle zwei Minuten fallen ihr eine andere Insel und ein anderer Bergkamm ein, die sie schon für toll befunden hat. Sizilien und Madeira immerhin stehen noch auf der To-do-Liste, und in Kenia und Namibia soll es ja auch sehr schön sein. 



Nicht alle Gesichtsversehrten sind bereit für die Welt und das eigene Ebenbild. Manche hängen ihre Spiegel ab. Laut Hornig ist das auch geschlechterabhängig. Männer hätten mehr Probleme als Frauen. Von einem weiß sie, der wollte sich nach einer Krebserkrankung im Gesicht seiner Tochter nicht mehr zeigen. Dabei hatte er nur eine kleine Narbe, kaum auffällig. Die Welt allerdings dreht sich um Gesichter. Gesichter moderieren Nachrichtensendungen und schwören Integrität auf Wahlplakaten, Gesichter grinsen von Urlaubsfotos und schmachten einander verknallt an. Was, wenn man seines verliert? 

OG 250.07.01 | eigM | m:183 | bst:6
:: "Ich verstecke mich nicht ..." (Hannelore Hornig)
 
Die Selbsthilfeorganisation „Tulpe“ will Betroffenen Rat bieten und Mut machen. Die Gruppe ist klein, rund 70 Mitglieder hat sie bundesweit. Die meisten hatten Tumore im Gesicht oder auf der Zunge. Ein Vereinskollege hat Stirnhöhlenkrebs und eine Platte unter der Stirn, ein anderer kam mit nur einem Ohr zur Welt, eine Frau litt als Kind an einem Auswuchs am Hals. Eine andere trägt wegen eines Tumors ein künstliches Auge. Epithesen heißen solche Gesichtsteile aus Kunststoff oder Glas. Sie kommen zum Einsatz, wenn Verluste nicht aus eigener Haut nachgebildet werden können. Früher gab es noch abenteuerliche Konstruktionen, nach dem Ersten Weltkrieg mussten Verletzte ihre Ersatznasen per Gummiband an den Ohren festklemmen. Der blumige Name „Tulpe“ ist deshalb ein Kurzwort für „Ob Tumor oder Unfall – Leben mit Perspektive und Epithese“. Gesichtsversehrte können sich im Verein über Mundtrockenheit austauschen oder darüber, wie man die Epithesen am besten pflegt. Austausch ist wichtig. Mit Menschen sprechen, deren Spiegelbild und Urlaubsfotos plötzlich auch anders aussehen als früher. Nach vorne blicken, insistiert Hornig immer. Nicht in Depression verfallen, nicht verstecken, bloß nicht verstecken. 



Sie selbst stieß vor 25 Jahren zum Verein, fast genauso lange kontrolliert sie die Vereinsfinanzen. Das Amt als Kassenwartin wird sie nicht mehr los. Bei „Tulpe“ ist es wie bei jedem anderen Club, um Posten reißt sich keiner. Hornig nennt ihre Truppe „eine große Familie“. Manche Familiengeschichten sind schrecklich. Ein junger Mann kontaktierte den Verein, verheiratet, zwei kleine Kinder, das Haus gerade fertig. Hornig begleitete ihn zum Epithetiker. Bald starb er an seinem Krebs. 



Hornig ist sie viel rumgekommen mit dem Verein. Bei Kongressen für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie stellte sie den Infostand auf, besuchte Krebskongresse, ein Professor lud sie aufs mondäne Sylt zum Symposium für ästhetische Medizin. Die Grenzen fließen. Wer sein Gesicht verloren hat, kommt schnell in Berührung mit jenem Kosmos, der dem absoluten Körper huldigt. Bei Nachkorrekturen traf Hornig in einer Krefelder Klinik eine junge Frau, deren Brüste gerettet werden mussten. Die hatte sie zuvor in Polen in für sie angemessenere Dimensionen umgestalten lassen, was total schief gelaufen war. Hannelore Hornig lehnt Schönheitsoperationen ab, die nur einem Wettrüsten um vermeintliche Perfektion dienen. Der Wunsch nach einem dieser uniformen Botox-Gesichter ist ihr ein Rätsel. Manche Leute im Fernsehen hätten gar keine Mimik mehr, findet sie. Die versteckten sich hinter einer Maske. Sie selbst braucht keine. Und sie braucht schon gar niemanden, der sich anmaßt, ihr das Gegenteil vor den Latz knallen zu dürfen. Einmal stürzte beim Einkaufen eine Frau auf sie zu. „Sie! Ich weiß da einen ganz tollen Schönheitschirurgen“, geiferte die ungefragt. Das tat weh. 



Hornig stammt aus Heidelberg. Die Liebe brachte sie in die Ulmer Gegend. Als ihr Hund sie biss, war sie 45. Ein paar Jahre später scheiterte ihre Ehe. Einen neuen Partner hätte sie schon gerne gehabt. Sie begann, Annoncen zu lesen. Verheimlichen wollte sie da gar nicht erst etwas, warum auch? Sie habe Narben im Gesicht, schrieb sie einem Mann. Damit könne er nicht umgehen, antwortete er. So ist das mit den ästhetischen Konventionen. Sie sind paradox. Ein Mann mit Narbe im Gesicht gelte als interessant, sagt Hornig. Frauen mit den gleichen OP-Spuren entsprächen nicht mehr dem Ideal. Und das Schönheitsideal einiger wird immer gnadenloser. Pastellfilter weichzeichnen Modestrecken, auf Social-Media-Profilen kommen sichtbare Poren der Apokalypse gleich. „Die jungen Leute definieren sich heute übers Gesicht“, sagt Hornig. Richtig angeschaut dagegen werde kaum einer mehr, weil alle nur noch aufs Handy stierten. Noch so ein Paradoxon. 



Im Alltag machen Hannelore Hornig ihre Narben nichts aus. Ärzte sucht sie nur noch auf, weil mit der Anzahl an Lebensjahren die Anlässe insgesamt etwas zunehmen. Aber es gibt diese Tage. Wenn sie nicht so gut drauf ist, weil Menschen eben mal nicht so gut drauf sind. Dann spürt sie die Augen der anderen auf sich kleben. Bei einem Schulfest war eine Familie drauf und dran, sich neben sie zu setzen. Als sie ihr Gesicht sahen, überlegten sie es sich anders. Eine Fremde sagte ihr während eines Urlaubs, wie sehr sie der erste Anblick erschrocken habe. Am schlimmsten sind die pikierten Mütter. Die ihre Kinder aus nackter Panik um deren Benimm wegschleifen, weil die Kleinen gucken. Tut man doch nicht, einfach gucken! Dabei hat Hornig nichts gegen Neugierde. So sind Kinder. Das Neugier-Verbot schmerzt viel mehr. Als wäre sie ein Fehler, der aus dem Stadtbild ausradiert werden müsse.



Ihr Dackel ist nach dem Biss eingeschläfert worden. Sie gibt ihm keine Schuld. Tiere mag sie immer noch. Wenn ihr ein fremder Hund entgegenkommt, wechselt sie nicht die Straßenseite. Der ehemalige Hausmeister besaß einen Retriever, den hat sie gern gehabt. Eine Freundin hat einen Yorkshire-Terrier und einen Tibet-Terrier. Gemeinsam gehen sie oft stundenlang spazieren. Eine Mordsfreude ist das jedes Mal, wenn die Hunde Hannelore Hornig treffen. Dann springen sie zur Begrüßung an. Kein Problem. Nur Autofahren mit den Tieren war heikel. Es kam vor, dass sie ihr auf den Schoß hüpften. Dann hockten sie da, und Hannelore Hornig hatte die spitzen Krallen auf den Oberschenkeln, gemütlich geht anders. Damit ist jetzt Schluss. Ihre Freundin hat ein Absperrgitter zum Rücksitz eingebaut. 


OG 250.07.02 | eigM | m:184 | bst:6
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